Nikosia Erfindet Sich Neu

Sonntagszeitung

Nikosia Erfindet Sich Neu

City-Tipp Fünfzig Jahre nach der Teilung entwickelt sich Zyperns Hauptstadt zum Lifestyle-Hotspot. Eine Attraktion ist die Stippvisite im türkisch-zypriotischen Stadtteil.

Nikosia wirkt tagsüber wie ausgestorben. Magere Katzen dösen im Schatten von verlassenen Häusern. Eine Gasse weiter sirren Bohrer, eine Kreissäge kreischt. Ganze Strassenzüge der zypriotischen Hauptstadt werden restauriert, die Trottoirs frisch gepflastert. Handwerker holen das Innere der Kolonialbauten englischen Ursprungs heraus. Ein B&B, ein Boutiquehotel, ein Restaurant, eine Bar nach der anderen eröffnen gerade in der Altstadt von Nikosia.

«Die Stadt ist in Aufbruchstimmung », sagt die Verkäuferin in einer Boutique an der Ermou- Strasse. Designermode hängt an minimalistischen Metallständern. An diesem Samstagvormittag ist es auffällig ruhig hier. «Aber warte mal ab, was heute Abend hier los sein wird», schiebt die Frau an der Kasse hinterher.

Und tatsächlich: Nach Sonnenuntergang füllen sich die Gassen, vibriert das Altstadtviertel unter den Beats der Restaurants, dem Lachen der Gäste. Bunte Lampions leuchten in den Bäumen. Unter ihnen flanieren Menschen in Ausgehlaune. Es ist angenehm warm, aber nicht mehr so heiss wie tagsüber, wenn die Sonne auf den Asphalt knallt. Die angesagten Spots wie das Old Power House locken, The Gym oder der Platz vor der Pizzeria Biga.

Nikosia hat fünf Universitäten, 25 000 Studierende, und auch die Touristen der beliebten Badeorte Zyperns kommen gern für einen Ausflug in die Stadt im Inselinneren. Sie kommen wegen des Cyprus-Museums, das Ausstellungsstücke der 9000-jährigen Geschichte Zyperns zeigt. Sie kommen wegen der Kolonialbauten, die die Briten räumten, als sie 1960 die Zyprioten in die Unabhängigkeit entliessen. Sie kommen, um Party zu machen. Und seit neuestem kommen sie auch wegen eines denkwürdigen Jahrestages: Zum 50. Mal jährte sich 2024 das Ereignis, das die Stadt in zwei Teile riss.

Seit 1974 trennt eine Grenze die Insel in eine griechisch-zypriotische und eine türkisch-zypriotische Hälfte und zieht sich mitten durch Nikosia.

Grenze ist an bestimmten Checkpoints geöffnet
Der Grenzübergang in der Ledra Street ist der beliebteste. Eigentlich bilden sich hier immer kleine Schlangen von Touristen und Einheimischen. Seit 2008 ist die Grenze zum von der Türkischen Republik Nordzypern kontrollierten Norden an bestimmten Checkpoints geöffnet. Passieren kann sie jeder – vorausgesetzt, man hat einen Personalausweis oder Reisepass dabei. Davor war die Green Line eine fast unüberbrückbare Hürde.

Was hier vor über fünfzig Jahren passiert ist, fasst die Politikwissenschaftlerin Kaiti Oikonomidou, die heute Besucher durch die Stadt führt, so zusammen: Nach der Unabhängigkeit von Grossbritannien 1960 kam es zu Spannungen zwischen griechischen und türkischen Zyprioten. 1974 putschten griechisch- zypriotische Offiziere, um die Insel an Griechenland anzugliedern. Daraufhin schickte die Türkei Soldaten. Sie besetzten während der Invasion den Norden. 1983 wurde dann die international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern ausgerufen.

Griechische Zyprioten flohen in den Süden. Umgekehrt verliessen türkische Zyprioten den Süden und siedelten im Norden an. Tausende Menschen kamen bei den Auseinandersetzungen ums Leben, etwa 2000 verschwanden spurlos. Die grüne Linie, welche die beiden Teile trennt, wird seit 1974 von UNFriedenstruppen kontrolliert. Eine Grenze, die sich wie eine offene Wunde durch die Stadt zieht. Mitten durch bestehende Nachbarschaften.

Hier blühen noch Blumen auf der Fensterbank. Direkt daneben zieht sich eine Mauer mit Stacheldraht über die Strasse. In der Ledra Street, der beliebtesten Einkaufsmeile der Stadt, gehört der Kontrollpunkt dagegen schon zum Stadtbild. «Man hat sich an ihn gewöhnt», meint Kaiti Oikonomidou, die mit dem Gast hinüber auf die andere Seite der Grenze will.

Hier sieht es auch nicht anders aus als auf der griechisch-zypriotischen Seite der Strasse: Ein Laden nach dem nächsten reiht sich in der Fussgängerzone. Nur fällt auf: Die Boutiquen sind voll mit Prada-, Chanel- und Gucci-Artikeln. Alle zu sehr günstigen Preisen. «Alles fake!», sagt Kaiti Oikonomidou und steuert auf ein Gebäude am Ende der Strasse zu: Die Selimiye- Moschee, eine ehemalige Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert. Imposante gotische Architektur.

«Das ist hier oft passiert, dass sakrale Bauten umgewandelt wurden – je nachdem, wer das Sagen hatte.» Mal stand Zypern unter dem Einfluss der Venezianer, dann der Osmanen. Auch die Römer und die Griechen der Antike hinterliessen Spuren.

Die Karawanserei Büyük Han – 1572 von den Osmanen gebaut – war früher eine Herberge für Händler, heute zieht sie mit Kunsthandwerk und Restaurants Touristen an, die sich mit der Markthalle von 1932 und der Selimiye-Moschee die Highlights auf der türkisch-zypriotischen Seite Nikosias anschauen.

Ein bisschen wirkt es, als wäre in diesem Teil der Stadt die Zeit stehen geblieben. Auf der griechisch- zypriotischen Seite startete dagegen ein regelrechter Bauboom. Nicht nur Nikosias Altstadt wird auf Hochglanz gebürstet. Architekturstars wie Jean Nouvel, der ein Hochhaus mit einer Fassade wie eine Lochkarte in den Himmel wachsen liess, und das Büro der vor fast zehn Jahren verstorbenen irakischbritischen Architektin Zaha Hadid setzen markante Zeichen der Zukunft.

Auf dem Platz der Freiheit entstand ein System von Treppen, Wasserbecken und Gärten sowie palmengesäumte Promenaden. Viel Geld aus Israel und den arabischen Staaten, aber vor allem aus der EU sind auf die Insel geflossen. Bis 2030 sollen allein neun Grossprojekte in Nikosia entstehen.

Joanna Louca hat der neue Vibe zurück in die Heimat gezogen. Geboren in Zypern, verbrachte die renommierte Webkünstlerin ihr Studentenleben in London. In Museum und Galerien weltweit werden ihre Arbeiten gezeigt. In Nikosia hat Louca ein Atelier bezogen, das sie für Besucher öffnet.

Mit dem gerade eröffneten Amyth in der Altstadt steht die Künstlerin schon in Kontakt. Das auffällig restaurierte Gebäude, eine ehemalige Schule, in dem das Boutiquehotel mit zehn Zimmern und Suiten und eines der angesagtesten Restaurants residieren, ist das beste Beispiel, wohin die Reise Nikosias geht: In die Zukunft.

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